Unterwegs als freundlicher Schatten

Um 08:40 Uhr schlage ich an der Bushaltestelle [Wiesenau] in [Seematt] auf. Ich bin aufgeregt und daher eine halbe Stunde zu früh vor Ort. Dies gibt mir Zeit, mich umzuschauen, bis die vier Studierenden der Pädagogischen Hochschule eintreffen. Ich klaube die Liste aus dem Ordner im Rucksack, auf der Namen, aufgeteilt in Dreier- oder Vierergruppen, aufgeführt sind. Alle Studierenden besuchen an diesem ersten Tag ihres Studiums zur Kindergarten- und Primarlehrperson eine ihnen zugeteilte Kindergarten- oder Schulklasse. Bis auf den Ort, den Zeitpunkt und Namen von Mitstudierenden wissen sie nichts darüber, was sie erwartet. Das gegenseitige Kennenlernen ist der Clou des Settings und verbietet mir, mich als Feldforscherin vorgängig bei den Studierenden anzukündigen. Nur [Chantal Wehrli], eine von zwei Studentinnen, die sich vor Studienbeginn für TriLAN interessiert hat und mit der ich bereits ein Erstgespräch geführt habe, weiss, dass ich da sein werde. Ich warte, studiere die Wegbeschreibung zum Kindergarten, den wir gemeinsam aufsuchen werden, und halte Ausschau nach einem schattigen Platz. Es ist ein schwüler, strahlend schöner Spätsommertag. [1]

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[Flora Matter]

Auf der anderen Seite der Strasse sehe ich die Bushaltestelle, die ich bei der Rückreise werde aufsuchen müssen. Geographische Koordinaten sind auf meinen Reisen wichtig, denn immer geht es darum, dass ich zunächst an- und dann wieder nach Hause komme. Sitzt dort eine junge Frau an der Haltestelle? Sie schaut zu mir hin, suchend, wendet den Blick nicht ab, als ich ein paar Schritte auf sie zugehe. Könnte das eine Studentin sein? Ich gehe etwa 50 Meter bergab, bis ich vis-à-vis zur Haltestelle der Gegenrichtung stehe. Die junge Frau steht auf, tritt an den Strassenrand und ruft: «Sind Sie die Lehrerin?» «Nein, ich bin Feldforscherin», rufe ich zurück. Die junge Frau schaut rechts und links und überquert raschen und leichten Schritts die Strasse. Ich erkläre, dass ich [Chantal Wehrli] im Rahmen eines Forschungsprojekts durchs dreijährige Studium begleiten darf, dass wir uns für die Frage interessieren, wie aus Studierenden Lehrerinnen und Lehrer werden, und dass ich mich freuen würde, wenn sich noch mehr Studierende am Projekt beteiligen würden. «Vielleicht mögen Sie auch noch mitmachen?» «Ja, gut, ich bin dabei». «Das freut mich sehr, ich bin Katharina Lüthi». «Freut micht», antwortet die Studentin und streckt mir die Hand entgegen, «ich bin [Flora Matter]». Ich gebe zu verstehen, dass wir auf Distanz bleiben müssen, winke mit beiden Händen und zeige in der Luft eine Umarmung an. Wir lachen beide. [2]

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[Chantal Wehrli], [Frank Wirt] und [Emilie Winter]

Mit dem nächsten Bus steigen drei weitere junge Menschen aus. Ich gebe mich als Feldforscherin zu erkennen, ekläre meine Aufgabe und gehe dann als «freundlicher Schatten» hinter der Gruppe her. [Chantal] übernimmt die Rolle des Scout, schaut abwechselnd aufs Handy und auf die Umgebung, derweil die Studierenden erzählen, wie sie den Weg an die Pädagogische Hochschule gefunden haben. Ich lausche. Nach einer kurzen Verirrung in die falsche Richtung kommen wir im Kindergarten an, ziehen die Schutzmaske an und treten ein. [Marlies Kühni], die Kindergartenlehrerin, begrüsst und heisst uns, die Hände zu waschen. Mit diesem Akt tauchen wir ein ins Regelwerk des institutionellen Erstkontakts. Wir durchschreiten einen fröhlich-belebten Raum, in dem die Kinder gerade im Freispiel unterwegs sind, und betreten ein schmal geschnittenes Nebenzimmer, das der Lehrerin wohl als Büro dient. Die Studierenden suchen sich einen Stuhl und versammeln sich um einen runden Tisch. Sie legen ein Blatt auf den Tisch, das ihnen die Kindergartenlehrerin gegeben hatte, und beginnen, die darauf beschriebenen Arbeitsaufträge zu bearbeiten. [3]

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